Optische Zeiten von Tagen
Ursula Panhans Bühler

Andreas Linder, Künstler aus St.Ulrich in Südtirol, hat eine konzeptuell ingeniöse Idee entwickelt, die es ihm ermöglicht, digital neuartige Bilder von photographischen Aufnahmen ganzer Tage zu entwickeln. Zunächst stellt er eine Kamera auf, die 24 Stunden lang, von Null bis 24 Uhr alle 10 Sekunden Aufnahmen einer Landschaft macht. So erhält er für jeden Tag 8640 Photos. Jedes dieser Photos wird sodann digital in seinen mittleren Lichtwert umgerechnet und für die Bildausgabe als Quadrat formatiert. In zeitlicher Folge werden die 8640 Bilder horizontal und vertikal aufgereiht, und so ergeben sich 80 Linien mit jeweils 108 farbigen Quadraten. Im Print ergibt deren Ausgabe in der Größe von jeweils einem Quadrat-Zentimeter nun eine artifizielle Pixel-Oberfläche, und die lineare Zeit erhält ein visuelles Pendant - eine zweidimensionale Fläche, die in unserer Imagination unterschiedliche Erinnerungen an Landschaften evoziert. Diese sind jedoch keinesfalls repräsentativ gegenständlicher Natur. Haptisch nicht greifbar, sind es rein optische Imaginationen, Materialisierungen des Lichts einer besonderen atmosphärischen Situation, wie wir sie aus eigener Erfahrung oder aus der Geschichte der Malerei kennen.

Jeder Tag hat seine eigene optisch-atmosphärische Zeit, und so ergeben sich unterschiedliche Bilder in Linder’s Montagen seiner photographischen Aufnahme von Zeitfolgen. Man kann sich erinnert fühlen an Monet’s Bilder der Kathedrale von Rouen, stets gemalt aus dem gleichen Blickwinkel, aber unter immer neuen atmosphärischen Bedingungen und zu immer anderen Tageszeiten. Und ebenso an seine späten Heuhaufen, deren faszinierende Optik in den Augen vieler seiner Zeitgenossen das triviale Motiv nicht wettmachen konnte.

Linder’s atmosphärische Zeitbilder erlauben eine andere, jedoch ebenso verblüffende Gegenüberstellung. Seine digital erzeugten Bilder, deren optische Bausteine sich einer algorithmischen Berechnung verdanken und deren am Rechner erzeugte Zeilenfolge nunmehr wie eine Simulation von vergröberten Pixeln erscheint, mögen insofern Unbehagen auslösen, als sie keine ‚natürliche’ Referenz haben. Stellen wir jedoch diese Produkte, die mithilfe der „AI“, der artifiziellen Intelligenz erzeugt sind, den Imaginationen der „NI“, der natürlichen Intelligenz gegenüber, von der in letzter Zeit vermehrt die Rede ist, so ergibt sich eine erstaunliche Situation. Linder’s digital konstruierte optisch-atmosphärische Verräumlichungen von Zeit lösen uns von einer Fixierung auf ikonographisch reproduktive Bilder. Dadurch kommt jedoch unsere NI-Imagination mit ins Spiel. Und so schlagen wir vielleicht nicht nur eine Brücke zu vielen selbst erlebten optisch-landschaftlichen Stimmungen, sondern entdecken auch unser spontanes Vermögen zu erinnernder Vergegenwärtigung als einen Reichtum, auf den uns paradoxerweise digitale Arbeitsweisen aufmerksam machen können.